Wappen von Wedtlenstedt

Baustelle Stichkanal

Zeitweise waren 3500 Männer auf der Baustelle
Zeitungsbericht über die Geschichte des Stichkanals von Bortfeld bis Watenstedt, Folge 6.,
erschienen in der Braunschweiger Zeitung am 8. Mai 1989.

Eine bewegte Zeit erlebten die Menschen in den Dörfern entlang der Trasse des Stichkanals von Bortfeld nach Bleckenstedt-Hallendorf in den drei Jahren von 1938 bis 1940. In zweieinviertel Jahren sollte ja diese neue Wasserstrasse mit dem Abschlusshafen betriebsfertig sein. Das hatte der damalige Reichsverkehrsminister Ende August 1937 zugesagt. Es geschah allerdings „unter der ausdrücklich wiederholten Voraussetzung”, daß für die Lieferungen und Leistungen von den zuständigen Stellen „dieselbe Dringlichkeit anerkannt wird wie für die Anlagen der Reichswerke selbst”. Mit dieser Erklärung des Ministers standen die Arbeiten am neuen Kanal von vornherein unter starken Termindruck.

Jemand der die ganze Zeit beobachtet hat, wie die Wirtschaft beim Kanalbau so lief, war unter anderem Hermann Luer (Groß Gleidingen), wie er in einem Gespräch lebhaft erzählte. So hat er gesehen, wie zuerst der Bahnhof Groß Gleidingen gleichsam vergrößert wurde. Dort kam alles an, was für die Bauarbeiten benötigt wurde, angefangen von den Ungetümen der Baumaschinen, dem schweren Baugerät, dem anderen Baumaterial bis hin zu den Arbeitern und den Versorgungsgütern für ihren Unterhalt. Daher entstand der mehrgleisige „Umlagebahnhof”, auf dem alles von der Reichsbahn auf die kleineren Feldbahnen umgeladen und dann zu den Baustellen befördert werden mußte.

Fotodokument: Betriebshof der Firma Polensky und Zöllner So herrschte bald Hochbetrieb an der Kanalzone, denn im Laufe des Jahres 1938 waren dort zeitweise bis zu 3500 Männer beschäftigt. Sie arbeiteten in zwei Schichten zu je zehn Stunden, so daß auch nachts die Baustellen in Betrieb waren, und die Lichterketten der Lampen die Nacht zum Tage machten. Vorbei war es nun mit der ländlichen Ruhe und Idylle. Der Baulärm drang bis in die Dörfer. Da bedienten Maschinisten die mehr als 30 zum Teil riesigen Eimer-, Greif- und Löffelbagger, um die etwa elf Millionen Kubikmeter Erde aus dem Kanalbett auszuschachten. Viele Lokführer beförderten täglich auf Feldbahnen die ausgebaggerte Erde auf etwa 190 Kilometer verlegten Gleisen kilometerweit zu den vorgesehenen Kippen.

Andere Spezialisten kletterten auf die Turm-, Dreh- und Lokkräne. Sie hoben und schwenkten die Lasten dorthin, wo sie gerade gebraucht wurden. Das waren im Laufe der Zeit allein rund 229 000 Kubikmeter Beton für den Bau der beiden Doppelschleusen und der Hafenmauer. Dazu kamen noch viele tausend Tonnen Stahl, ganz abgesehen von den anderen Baumaterialien. Der Lärm hat sicherlich manchen Dorfbewohner aus dem Schlaf gerissen, wenn die schweren Dampframmen hämmerten. Im Laufe dieser Arbeiten haben sich 14 tödliche Arbeitsunfälle ereignet, wie aus einem entsprechenden Verzeichnis hervorgeht. Den Sonnenbergern machte aber nicht nur der Baulärm zu schaffen. Sie hatten das Pech, daß die kleineren und großen Transportzüge mit der Erde durch das Dorf fuhren, um den Aushub auf eine Kippe zu befördern, die „in den Pütten” westlich von Wierthe lag.

Fotodokument: Schwere Lokomotive die Abraum transportiert Wie Richard Ebeling (Sonnenberg) schilderte, führten die Transportgleise an den beiden Gastwirtschaften vorbei, die Wierther Strasse entlang, unter der Bahn durch, wo sie die halbe Strassenseite beanspruchten, an der Zuckerfabrik vorbei, kreuzten dann die Strasse nach Alvesse und erreichten schließlich das Kippengelände zwischen Wierthe und Köchingen. Auf diesem Wege erwiesen sich sowohl die Bahnunterführung wie die Auebrücke als ausgesprochene Verkehrshindernisse. Dort standen dann Arbeiter und drehten den Fahrzeugen auf ihren „Verkehrsscheiben” jeweils die grüne oder rote Seite zu, jenachdem, ob sie freie Fahrt hatten oder warten mußten. Die Gleise und der Zugverkehr erschwerten außerdem die Zufahrt zu den Feldern. Vor allem die Gleise, die überquert werden mußten, bereiteten den meisten Ärger, weil die dafür notwendigen Überfahrten nur behelfsmäßig gebaut worden waren, so daß immer wieder Pferde oder andere Zugtiere scheuten, wie sich Richard Ebeling erinnerte.

„Zuerst war in den Kneipen und auf der Post allerhand los”, erzählte Hermann Luer. Auch in Groß Gleidingen veränderte sich das Leben, denn „im Dorf waren in fast allen Häusern Arbeiter einquartiert”. Es waren in der Regel Vorarbeiter, Ingenieure oder anderes Aufsichtspersonal. So wohnte beispielsweise in Hermann Luers Elternhaus ein Schachtmeister mit seiner Familie. Auch in den anderen Orten entlang des Kanals bot die Zimmervermietung eine willkommene, zusätzliche Verdienstmöglichkeit. Gastwirt Wolters, der Großvater des des jetzigen Besitzers, hatte damals die Poststelle, berichtete Richard Fleige (Groß Gleidingen). Weil nach der Ankunft der Bauarbeiter auch in seiner Gastwirtschaft regerer Betrieb war als vorher, gab er die Poststelle ab. Er hatte ganz einfach keine Zeit mehr dafür. Die Post hat dann Schneidermeister Möhring übernommen. Aber nicht immer hatte der Wirt seine Freude an dem gestiegenen Umsatz. Offenbar muß es im Laufe der Zeit in der Gastwirtschaft zwischen den Einheimischen und den aus anderen Gegenden zugezogenen Arbeitern doch erheblichen Ärger gegeben haben. So erzählte Hermann Luer, daß der Wirt um den Streit zwischen den beiden Gruppen dadurch aus dem Wege ging, daß er beide Parteien in getrennten Gaststuben bewirtete. Fotodokument: Bereitstehende Eisenbahnwaggons werden mit Baggern beladen Richard Ebeling hat in Sonnenberg ebenfalls erlebt, daß beispielsweise während eines Kraches oder gar einer Schlägerei in der Gastwirtschaft der ein oder andere Besucher „durch das Fenster geflogen” kam. Im allgemeinen, so erzählte er weiter, haben sich die „Einheimischen und die Zugereisten” aber recht gut vertragen. So manches hübsche Mädchen hat damals gar einen „Kanaliker” geheiratet, wie die neuen Mitbürger mitunter scherzhaft genannt wurden. Auch nach dem Kriege, so Richard Ebeling, haben immer wieder Arbeiter aus der Kanalbauzeit ihre Gasteltern besucht.

Bilder vom Bau der Wedtlenstedter Schleuse 1938 finden sie hier.